Teilerfolg beim Verfassungsgericht Berlin

Während manchem ehemaligen "Ideologiekritiker" die repressiven Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung nicht weit genug gingen oder zu spät kamen, andere dies oder jenes Moment des Gesamtpakets etwas überzogen fanden oder an dieser oder jener Begleiterscheinung zaghafte Kritik zu formulieren wagten, haben Berliner Verfassungsrechtler größere Bauchschmerzen mit der coronabedingten Ausgangssperre.

Zwar hat der VERFASSUNGSGERICHTSHOF DES LANDES BERLIN in der Sache VerfGH 50 A/20 am 14. April gegen den Antragsteller entschieden.

Das angehängte "Sondervotum des Vizepräsidenten Dr. Seegmüller und der Verfassungsrichterin Prof. Dr. Schönrock" ist aber durchaus interessant:

ZITAT:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung muss teilweise Erfolg haben. Die Verfassungsbeschwerde ist weitgehend zulässig und, soweit zulässig, teilweise offensichtlich begründet.

§ 14 Abs. 1 SARS-CoV-2-EindmaßnV schränkt das Recht des Beschwerdeführers auf persönliche Freiheit aus Art. 8 Abs. 1 VvB und seine allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 7 VvB unverhältnismäßig ein. Die Vorschrift verpflichtet im Stadtgebiet von Berlin befindliche Personen, sich ständig in ihrer Wohnung aufzuhalten und diese nur bei Vorliegen eines hinreichenden Grundes zu verlassen. Hinreichende Gründe zum Verlassen der Wohnung zählt § 14 Abs. 3 SARS-CoV-2-EindmaßnV beispielhaft auf. Die Regelung greift in den Kernbereich des Rechts des Beschwerdeführers auf persönliche Freiheit aus Art. 8 Abs. 1 VvB und in den Kernbereich seiner durch Art. 7 VvB gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit ein. Zum Kernbereich aller Freiheitsgrundrechte gehört das grundgesetzlich vorgegebene Verhältnis von Freiheit und staatlicher Einschränkung. Der Einzelne muss die Ausübung oder Nichtausübung seiner Freiheitsrechte nicht begründen. Die Motive seines Handelns sind staatlicher Bewertung entzogen. Jede staatliche Einschränkung bedarf einer verfassungsrechtlich tragfähigen Begründung. Kann der Staat diese nicht (mehr) leisten, ist die Beschränkung verfassungswidrig. Die damit beschrieben grundsätzliche Vermutung der Freiheit ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein zentrales konstitutives Element einer freiheitlichen Demokratie. Der Beteiligte hat schon die Eignung und die Erforderlichkeit des Eingriffs nicht hinreichend dargelegt. Seinen Ausführungen nach ist weder ersichtlich, dass das Verlassen der eigenen Wohnung bei Wahrung des in § 14 Abs. 2 SARS-CoV-2-EindmaßnV vorgesehenen Abstandes stets oder auch nur regelhaft das Risiko einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus nach sich zieht. Nimmt man dennoch ein solches Risiko an, hat der Beteiligte jedenfalls nicht dargelegt, dass die mit der Maßnahme verbundene Minderung des Infektionsrisikos hinreichend bedeutsam ist, um das Gewicht des Eingriffs zu rechtfertigen.

§ 1 Abs. 1 bis 6 SARS-CoV-2-EindmaßnV schränken das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers aus Art. 7 i.V.m. Art. 6 VvB in verfassungswidriger Weise ein, soweit die Vorschriften ihm in Verbindung mit § 14 Abs. 2 SARS-CoV-2-EindmaßnV die Pflege näherer oder direkter körperlicher Kontakte zu Personen seines Vertrauens, die nicht Ehe-oder Lebenspartner sind und nicht zu seinem Haushalt gehören, untersagen und ihn verpflichten, hierüber Aufzeichnungen zu fertigen und vorzuhalten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die engere persönliche Lebenssphäre. Dazu zählt die Privat- und Intimsphäre, in die er sich frei von jeder staatlichen Kontrolle und sonstiger Beeinträchtigung zurückziehen und mit den Mitgliedern seines engsten Familienkreises oder anderen Vertrauenspersonen ungestört kommunizieren kann (BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 -1 BvR 2111/94 -BVerfGE 96, 171 <181>). In diesem Bereich muss der Einzelne unbeobachtet sich selbst überlassen sein und muss mit besonderen Vertrauenspersonen ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen und ohne Furcht vor staatlichen Repressalien frei verkehren können (BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 -1 BvR 2111/94 -BVerfGE 96, 171 <181>). Eingriffe in diesen Kernbereich der privaten Lebensgestaltung – die Intimsphäre – sind stets unzulässig (BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1996 -1 BvR 2111/94). Das gilt auch, soweit die Betätigung des Einzelnen in dem absoluten Kernbereich privater Lebensgestaltung zu Infektionsrisiken führt. Diese sind von Verfassungs wegen hinzunehmen.

§ 22 SARS-CoV-2-EindmaßnV verstößt gegen das Bestimmtheitsgebot des § 15 Abs. 2 VvB. Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass der Normadressat erkennen kann, welches Verhalten verboten und strafbar ist (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 -2 BvR 2559/08 u.a. -BVerfGE 126, 170 Rn. 71 ff.). Soweit § 22 SARS-CoV-2-EindmaßnV Verstöße gegen § 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 bis Abs. 5 SARS-CoV-2-EindmaßnV und Verstöße gegen § 14 Abs. 1 SARS-CoV-2-EindmaßnV bußgeldbewehrt, verletzt die Vorschrift den Bestimmtheitsgrundsatz, weil sie auf Normen Bezug nimmt, deren Regelungsgehalt der Normadressat nicht sicher erfassen kann. § 1 Abs. 4 Satz 2 SARS-CoV-2-EindmaßnV gestattet Zusammenkünfte im privaten und familiären Bereich bei Vorliegen eines zwingenden Grundes, ohne näher auszuführen, wann ein solcher angenommen werden kann. Der Normadressat muss bei jeder Zusammenkunft im privaten und familiären Bereich damit rechnen, sanktioniert zu werden, wenn die von ihm angeführten Gründe für die Zusammenkunft nicht als zwingend anerkannt werden.

Das gilt gleichermaßen für § 14 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 SARS-CoV-2-EindmaßnV. Danach darf die Wohnung nur mit hinreichendem Grund verlassen werden. § 14 Abs. 3 SARS-CoV-2-EindmaßnV zählt hinreichende Gründe für ein Verlassen der Wohnung auf, ohne selbst abschließend zu regeln, welche weiteren Gründe es gibt. Soweit es um die Wahrung von Terminen bei Behörden, Gerichten usw. geht, regelt § 14 Abs. 3 Buchstabe n SARS-CoV-2-EindmaßnV zudem, dass nur dringend erforderliche Termine wahrgenommen werden dürfen. Auch insoweit bleibt der Normadressat in mehrerlei Hinsicht im Unklaren darüber, was ihm erlaubt und verboten ist. Bei jeder Freiheitsbetätigung ist er dem Risiko ausgesetzt, dass die von ihm für beachtlich gehaltenen Gründe nicht anerkannt werden und er einer Sanktionierung ausgesetzt wird.

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